Preko
Eine kleine Geschichte des Reisens
von Erwin Fiala
Im etymologischen Ursprung des deutschen Begriffs „reisen“ findet sich die Bedeutungsebene des Reisens als „Sinnsuche“ konnotiert – wer sich auf eine Reise begab, tat dies meist mit einem bestimmten Zweck und einem Ziel im Sinne einer „Lebensaufgabe“. Intendiert war ein Erfahrungs- und Lernprozess, der sowohl beruflich wie auch persönlichkeitsbildend motiviert war. Davon zeugt etwa die Praxis der Handwerksgilden, deren Lehrlinge sich einige Zeit auf Wanderschaft begeben mussten, um so einerseits ihren beruflichen Wissensstand und andererseits auch ihre allgemeine Lebenserfahrung zu erweitern.
Seit dem 15. Jahrhundert, vor allem aber im 18. Jahrhundert und hier insbesondere im Zeitalter der deutschen Klassik und Romantik, entwickelte sich auch die Idee der künstlerischen Bildungsreise – Goethes Italienreise ist wohl das bekannteste Beispiel dafür. Motiviert, „verklärt“ und im wahrsten Sinne des Wortes „romantisiert“ wurde diese historische Vorstufe des Tourismus durch die seit der Renaissance verstärkte „Antikensehnsucht“, die im Konzept eines griechisch-römischen Kulturerbes eine Art rückwärtsgewandter Utopie entwickelte – Traum und gleichzeitig Trauma transalpinen Kultur- und Kunstverständnisses. Im Lauf des 19. Jahrhunderts übernahmen weitere soziale Schichten – Adel und wohlhabendes Bürgertum – diese Orientierung am und in den mediterranen Raum – hier jedoch bereits weniger als Bildungs- und Kulturreise, sondern vielmehr als Vergnügungs- und Erholungsmöglichkeit. Vor der Folie einer zunehmenden Industrialisierung und Verstädterung entstand auch das „Gegenbild“ einer Erholung in der „Fremde“ – zumindest für alle jene, die es sich auch leisten konnten – bis hin zu eigenen südländischen Domizilen.
Auf diese Art (mit unzähligen weiteren Aspekten und Faktoren) konstituierte sich – lange bevor man vom Phänomen eines „Tourismus“ im modernen Sinne sprechen hätte können – im transalpinen Europa jenes durchaus nicht unproblematische Bild des mediterranen Raumes, das ein sorgloses und unbeschwertes Leben (wenn auch nur für kurze Urlaubstage) verspricht. Dass die realen politischen, ökonomischen und sozialen Lebensverhältnisse der Bevölkerung der mediterranen Feriendestinationen meist nicht dem Urlaubsidyll entsprachen, war und ist wohl bis heute eine unleugbare Ambivalenz des mittlerweile globalen Tourismus.
Ökonomische, politische und soziale Voraussetzungen des Tourismus
Die ausschlaggebende Voraussetzung für die Entwicklung des modernen Tourismus war jedoch der sozial-ökonomische Aufschwung nach dem 2. Weltkrieg, der es immer breiteren sozialen Schichten – vor allem der sogenannten Arbeiterschaft mittel- und nordeuropäischer Industriestaaten – vermehrt ermöglichte, sich ebenfalls Auslandsreisen und -urlaube in Mittelmeerländern leisten zu können.
Allerdings war der Ende der 1950er Jahre und schließlich während der 1960er Jahre erreichte wirtschaftliche Wohlstand der nördlichen Nachbarstaaten der damaligen Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien nicht der allein notwendige Faktor, um vor allem die dalmatinische Adriaküste zu einem der beliebtesten Urlaubsziele in Europa werden zu lassen. Als politische Voraussetzung muss die liberale Ein- und Ausreisepolitik des ehemaligen Jugoslawien angesehen werden, das die für kommunistische Staaten übliche Abschottungspolitik weniger rigide handhabte und so den Tourismus insbesondere in Slowenien und Kroatien erst möglich machte – eine touristische Tradition, die bis zur Krise in den 1980er Jahren nicht unwesentlich auch zum Wohlstand der jugoslawischen Föderation beigetragen hatte.
Neben diesen allgemeinen Rahmenbedingungen für die Entwicklung des Tourismus vor allem in Kroatien, d. h. also des ökonomischen Aufschwungs in den westlichen Industriestaaten und des politischen Liberalismus zur Zeit der SFRJ, waren aber auch die sozialen bzw. arbeitsrechtlichen Errungenschaften (und dies wird oft übersehen!) in den ökonomisch erfolgreichen Ländern ein entscheidender Faktor – denn ohne diesen sozialen Fortschritt in der Gestaltung der Arbeits- und Lebenswelt der Arbeiterschaft hätte ein ökonomischer Reichtum allein nicht ausgereicht, um den modernen Urlaubstourismus zu ermöglichen. In dieser Hinsicht stellen die durch den Betriebsrat der damaligen Puch AG für Werksmitarbeiter und -arbeiterinnen sowie deren Angehörige organisierten Urlaubsreisen nach Preko gleichsam exemplarische historische Dokumente dar. Sie zeugen nicht nur von einem ökonomischen Aufschwung, sondern eben auch von der Entwicklung einer „sozialen Arbeitskultur“ in einem doch bedeutenden österreichischen Unternehmen.
Die „Puchianer“ in Preko
Lange bevor es die tatsächlichen Einkommensverhältnisse den einzelnen Arbeitern und Arbeiterinnen erlaubt hätten individuelle Urlaube im Ausland verbringen zu können, kamen vor allem durch die Unterstützung des Betriebsrates der Puch AG sowie des Unternehmens selbst insgesamt Tausende von Puch-Angestellten in den Genuss einiger Urlaubstage an der Adria-Küste.
Die mit Bussen anreisenden „Puchianer“ (in den „besten“ Zeiten immerhin bis zu zwei-tausend Personen) wurden zunächst in Privatquartieren untergebracht, da es in den frühen 1960er Jahren keinerlei touristische Infrastruktur (Hotels oder Appartements) gab – derart konnte aber auch ein Großteil der Bevölkerung ein wenn auch geringes Zusatzeinkommen verdienen. Ein mittlerweile bereits wieder abgetragenes Restaurant wurde zur zentralen Verpflegungs- und Veranstaltungslokalität mit abendlichen Musikdarbietungen. Für die Grazer „Puchianer“ gab es mitunter besondere Abendveranstaltungen als Höhepunkte der bescheidenen und vor allem an den Badestränden verbrachten Urlaubstage. Ausflüge führten einige manchmal nach Zadar, einige wanderten zur nahe gelegenen Festungsruine. 1969 kam es zum Bau eines Hotels, das inzwischen ebenfalls wieder abgetragen wurde. Mit heutigen touristischen Maßstäben und Ansprüchen gemessen, hatten diese ersten Jahre des Tourismus in Preko sicherlich eher den Charme einer Abenteuerreise – und dennoch war dies wohl auch Teil des Urlaubsflairs.
Mit dem Ausbruch der kriegerischen Auseinandersetzungen wurde die Tradition der Puch-Reisen nach Preko ab 1991/92 jäh unterbrochen – sie wurden erst ab dem Jahre 1999/2000 in allerdings bescheidenerem Ausmaße wieder aufgenommen – aber, so versicherte ein Verantwortlicher: „mit besonderer Handschlagsqualität“. In diesen mittlerweile bereits 50 Jahren des Tourismus in Preko – insbesondere in Form der „Puchianer“ – waren unzählige Bekanntschaften und Freundschaften entstanden, die sicherlich und wenn auch nur im „Kleinen“ mithalfen, menschliche und kulturelle Abgrenzungen zu überwinden.[1]
Eine Spurensuche
Erika Lojen begibt sich auf die Suche nach jenen architektonischen Spuren dieser 50ig-jährigen Geschichte der Urlaubsreisen der „Puchianer“ nach Preko, die gleichsam als Menetekel moderner Zeiten bereits der „Auslöschung“ und damit auch dem Vergessen geweiht scheinen. Sowohl das ehemalige Restaurant – dieses „Lebens-Zentrum“ der Urlaubsgäste – wie auch das einstige Hotel aus den späten 1960er Jahren wurden inzwischen abgetragen und stellen nunmehr architektonisches Brachland dar – „Leerstellen“, die kaum mehr etwas über ihre vergangene Bedeutung und Funktion erzählen. Wie viele Menschen waren hier einst aus- und eingegangen, hatten Gespräche geführt (wichtige und weniger wichtige), zankten und versöhnten sich wieder, lachten und weinten, hatten alles mit Leben und unausbleiblichen Tragikomödien gefüllt – als wäre das Hier und Jetzt das Zentrum der Welt. Davon erzählen jetzt nur mehr die Abbruchstellen, diese Leere zwischen anderen Gebäuden, die sagt: Es muss hier einmal etwas gewesen sein …
Wie die tausendfachen „persönlichen“ Erinnerungen der einstigen Gäste sind auch diese architektonischen Spuren dem Vergessen preisgegeben. Und auch die fotografische Spurensuche nach Bild-Dokumenten dieser Gebäude – vor allem aus den ersten Jahren – bleibt letztlich bescheiden. Nur wenige der „Puchianer“ hatten sich in den 1960er und 1970er Jahren den „Luxus“ eines Fotoapparates leisten können.
Aber auch für die Einwohner Prekos stellten das Restaurant und das Hotel nicht nur sinnbildlich den wenn auch bescheidenen ökonomischen Aufschwung dieser Jahre dar – zahlreiche Arbeitsplätze und Zusatzeinkommen waren damit verbunden.
All diesen verlöschenden „Spuren“ einer gemeinsamen Vergangenheit zwischen Preko und seinen österreichischen Urlaubsgästen versucht Erika Lojen durch ihre Installation, d. h. durch eine Veranschaulichung der architektonischen Grundrisse des Hotels und durch die Errichtung einer Bühne am Restaurant-Standort für kurze Zeit eine „Erinnerungsspur“ entgegenzusetzen. Zumindest an einem Abend werden auf dem Areal des Restaurants für viele wieder all jene Menschen und Erlebnisse zur Wirklichkeit, die vor Jahrzehnten ihr Leben geprägt hatten, für einige Momente könnte Vergangenes wieder zur Gegenwart werden … als wäre keine Zeit verstrichen … als wäre kein Krieg gewesen …
Inge Pock erweitert diese zentralen Gedächtnisorte durch eine „Erinnerungsspur“ an der beliebten Uferpromenade Prekos. In Anlehnung an den „Walk of Fame“ Hollywoods gestaltet sie einen „Walk of Holidays“, d. h. einen „Walk of Puch-Graz – Preko“ in Form von sieben kreisförmigen Stahlplatten, die als metallene „Pflastersteine“ entlang der Uferpromenade eingelassen sind.
Allerdings finden sich darauf keine Namen mehr oder minder „berühmter“ Gäste, vielmehr könnte man die in die Stahlrondos eingravierten Sentenzen als Denkmal für jene ungreifbare und ephemere „Urlaubsatmosphäre“ verstehen, die im Laufe der Jahrzehnte Tausende von „Puchianern“ für einige wenige Tage erleben konnten – Geräusche, Düfte, die Wärme der Sonne, die Kühle der Nächte … Gespräche mit Freunden, das Salz des Meeres auf ölverschmierter Haut …
In den Stahl sind kurze Textpassagen einer Erzählung Robert Bacaljas eingraviert – in wenigen „Notizen“ wird die Atmosphäre des mediterranen Urlaubsgefühls evoziert: „… denn in der Sommerzeit überwog das Lachen“ oder: „An der Küste warteten viele Leute auf sie, aber die meisten waren Kinder.“ Es waren Kinder und Halbwüchsige, die die Neuankömmlinge in die jeweiligen Privatunterkünfte brachten, das Gepäck trugen und auch so mancherlei „Schabernack“ mit den österreichischen Gästen trieben – gleichsam als interkulturelles Kommunikationsgeplänkel zwischen jenen, die sich sprachlich kaum verständigen konnten. Es waren aber auch kindliche und unbewusste Status- und Revierkämpfe, die sowohl der Kontaktaufnahme wie auch der Abgrenzung zwischen den einheimischen und ausländischen Kindern dienten: „Tagsüber waren sie wie Schmuck oder wie Eigentümer ihres Teils der Ortschaft, des Badestrands, des Meeres und des kleinen Hafens.“ Wer diese in Stahlplatten eingravierten Sätze nun liest, der wird sie vielleicht aus eigener Erfahrung kennen – als Gast in Preko: „Am Weg war alles voller Düfte … an einem frischen mit saphirblauem Himmel überdachten Morgen …“
Spärlich sind die „Spuren“ der wechselvollen Geschichte in und um Preko, einer Geschichte, die ihre „Denkmäler“ und Spuren doch eher im nahe gelegenen Zadar hinterließ. Ein 2007 errichtetes Denkmal erinnert an keinen heroischen „Sohn“, sondern an 16 Frauen und Mädchen, die mit einem Boot von Preko zum Festland übersetzen wollten, um im damals italienischen Zadar als Wäscherinnen zu arbeiten – ein Unglück brachte das Boot zum Kentern und die Frauen ertranken …
Auf der Preko vorgelagerten kleinen Insel Galevac allerdings befindet sich das ab 1446 errichtete Franziskaner-Kloster, in dem heute noch Sonntagsmessen im Freien stattfinden. In seiner wechselvollen Geschichte diente es im 18. Jahrhundert als sogenannte „Quarantäne“, von 1901 bis zum Ende des 2. Weltkrieges beherbergte es eine Schule mit Öffentlichkeitsrecht, in der Zeit der jugoslawischen Föderation fungierte es als Ferien- und Waisenlager. Nach der Rückgabe an die Franziskaner wurde mit Restaurierungsarbeiten begonnen. Das Kloster bewahrt Schriften in glagolitischer Schrift, die im Gegensatz zum kyrillischen Alphabet mit großer Wahrscheinlichkeit auch tatsächlich eine Entwicklung Kyrills war.[2] Während die Glagolica im Laufe der Geschichte weitgehend durch die kyrillische Schrift oder auch durch das lateinische Alphabet verdrängt wurde, war sie im kroatischen Raum – und hier vor allem im nordwestlichen Dalmatien bzw. in Istrien[3] bis weit in das 19. Jahrhundert hinein (vor allem im liturgischen Bereich) gebräuchlich – als solche stellt sie einen Teil des kroatischen Kulturerbes der letzten Jahrhunderte dar.
Aurelia Meinhart bringt dieses mittlerweile weitgehend „vergessene“ Kulturgut in Form einer Installation von „Segelwimpeln“ mit glagolitischen Schriftzeichen im wahrsten Sinne des Wortes wieder an das Tageslicht. Die an den Bäumen der Klosterinsel „gehissten“ Segelfahnen tragen jeweils einen glagolitischen Buchstaben, die – wenn auch nur imaginär – sich zu Worten und schließlich zu einem Satz der Genesis verbinden und noch einmal mit den Winden „in alle Richtungen wehen“. Für den schriftunkundigen Rezipienten allerdings lösen sich die Zeichen aus ihrer Bedeutungsfunktion und werden zu ästhetischen Figurationen, die die kalligraphische Qualität dieser Buchstabenelemente wahrnehmbar werden lassen – eine Qualität, die paradoxer Weise durch die Kenntnis und den alltäglichen Gebrauch von Schriftzeichen meist verloren geht.
Luise Kloos setzt das Gesamt-Projekt dieser Spurensuche hinsichtlich der 50-jährigen Geschichte der touristischen Beziehung zwischen Österreich und Kroatien – und hier vor allem jene zu Preko – einerseits als Suche nach ortsspezifischen „typischen“ Souvenirs fort, um daraus andererseits eine choreographierte „Urlaubs-Performance“ zu entwickeln. Die Inszenierung dieser „Memories on holidays“ rekurriert etwa auf die ursprüngliche Art der Schwimmreifen, die aus alten Reifenschläuchen bestanden. Luise Kloos inszeniert zwischen Preko und der kleinen Insel Galevac ein Defilé unzähliger gelber Schwimmreifen, an denen sich auch ungeübte Schwimmer bis zur Insel „vorwagen“ können. Eines der begehrtesten Souvenirs aus Preko war für die österreichischen Gäste wohl auch das dortige Olivenöl, das Mangels „künstlicher“ Sonnenschutzmittel während der Urlaubszeit überwiegend als Sonnenöl Verwendung fand, von dem man aber auch gerne etwas mit nach Hause nahm. Noch heute zeugt die alte Ölmühle von der auch ökonomischen Bedeutung des Olivenöls für die Region.
Im Mittelpunkt steht jedoch die Inszenierung einer partizipativen Live-Performance mit Teilnehmern und Teilnehmerinnen aus der ansässigen Bevölkerung sowie Urlaubern und „Puchianern“, um Erinnerungen gleichsam in ein neues Erlebnis zu transformieren.
Dabei geht sie thematisch von der durchaus zwiespältigen Bedeutung und Funktion des Phänomens Wasser aus: Wasser als lebenspendendes, aber auch todbringendes Element (man denke an jene 16 Frauen, die 1892 bei ihrer Überfahrt auf das Festland den Tod fanden!), Wasser als Element des Badevergnügens, das in Form des Meeres scheinbar in Überfluss vorhanden ist – und vor allem deshalb kamen und kommen ja auch Gäste nach Preko –, Wasser aber auch als kostbares, kaum bzw. nur schwer verfügbares Gut in Form des Trinkwassers. Wer bedenkt heute noch, dass das Trinkwasser bis zum Bau einer Trinkwasserleitung vom Festland auf die Insel einerseits kaum vorhanden war und andererseits über weite Strecken getragen werden musste, dass der „Ansturm“ der ersten Touristen diese Wasserknappheit vergrößerte, dass schließlich Schiffe das benötigte Wasser zur Insel transportieren mussten. Luise Kloos integriert diese unterschiedlichen Aspekte des Wassers in ihre Performance, indem sie einerseits durch ein Lied an die Lavendere erinnert, die weitere Musikcollage durch Wassergeräusche „untermalt“ und die Performance nach der Adaptation eines Zählreims von Kurt Schwitters mit Sprüngen in das von den Urlaubsgästen begehrte Wasser der kroatischen Adria zu Ende gehen lässt.
[1] Der Autor dankt Herrn Werner Wenk für mündliche Informationen zu den Reiseaktionen der Steyr-Daimler-Puch AG.
[2] Vgl. Harald Haarmann: Universalgeschichte der Schrift. Frankfurt/New York 1991, 443-449.
[3] So wurde 1976 die sog. „Glagolitische Allee“ von Roc bis Hum als Denkmal errichtet.