Robert Bacalja
Vizerektor, Universitätsprofessor, Autor, Initiator des Projektes
Robert Bacalja hat 1985 an der Philosophischen Fakultät in Zadar kroatische Sprache und südslawische Literatur graduiert. Er unterrichtet an der Universität Zadar kroatische Kinderliteratur, lehrt Unterrichtsmethoden der kroatischen Sprache und leitet an der Pädagogischen Hochschule in Zadar die Abteilung für Grundschul- und Vorschulerziehung. Seit 2012 ist er Vizerektor der Universität Zadar. Robert Bacalja hat zahlreiche wissenschaftliche und literarische Bücher veröffentlicht. Er wurde 2008 in die Vereinigung der kroatischen Schriftsteller aufgenommen und ist Mitglied der Matrix Croatica. Robert Bacalja hält an verschiedenen nationalen und internationalen Universitäten Vorträge. Gemeinsam mit Josip Zanki leitet er seit Jahren das Kunstprojekt “Back to Heritage”.
Kuinta
I.
Sie gingen ins Abteil, eine halbe Stunde vor der Abfahrt des Zuges, und stellten ihre drei alten Koffer ab. Sie schauten nicht wie üblich durch das Fenster, weil am Bahnsteig des Grazer Bahnhofs niemand zu sehen war. Gleich setzten sie sich auf ihre Plätze. Die Mutter ließ sich unter dem Bild des Wocheiner Sees nieder, der Vater unter dem Besitz des Bistums Freising. Von der Altstadt aus reichte der Blick bis zum See mit der kleinen Insel. Eine viel zu oft genutzte Vedute, nur um den See und die kleine Insel zeigen zu können. Über Kuintas Kopf bot sich kein Blick, man stieg in den Untergrund der Höhle von Postojna ein. Das vierte Photo gab es im Abteil nicht. Nur ein dunkles Rechteck auf dem hellbraunen Ultrapass zeigte, dass da einst noch ein Foto ein harmonisches Quartett gebildet hatte.
Der Zug fuhr um acht Uhr abends vom leeren Bahnhof ab, daher konnten sie die Schönheit der schönen steirischen Landschaft nicht genießen. Die einzige Sicht in dieser Nacht waren ihnen die übriggebliebenen Fotos, nur zwei, weil ein Foto in den Untergrund führte.
Sie reisten die ganze Nacht hindurch. Sie fuhren gemütlich, eigentlich schliefen sie gut. Nur die Lichter von seltenen Städten unterwegs streiften über ihren Köpfen und weckten sie kurz auf. In diesen kurzen Schlafpausen phantasierte Kuinta von der Vergnügung am Meer. Zum Schwimmen stellte ihm der Vater einen Autoinnenreifen, ein weißes Plastikkäppchen und für alle Fälle, wenn er auf steinernen Boden oder auf Seeigel stoßen sollte, Gummipatschen bereit. Er würde als Sieger die Furt und den Badestrand passieren, weil er geschützte Füße hatte. Auf den Kopf passte für alle Fälle das von Salz und Sonne weiße Käppchen auf, und dieses für alle Fälle ging ihm stets durch den Kopf. Der Autoreifen würde ihn nicht versinken lassen.
Die größten Probleme bereiteten ihnen die Strandluftpolster. Sie stopften sie äußerst schwer in den kleineren Koffer hinein. Zu den Polstern gehörte auch die Pumpe. Wer kann denn bei starker Julisonne in ein heißes Gummipolster hinein blasen? Ohnehin mangelt es dabei an Luft. „Im Augenblick, in dem der Mittagswind, genannt Maestral, gierig erwartet wird, tut man eine so schwere Arbeit nicht“, sagte der Vater.
Vom Sonnenöl der Marke Di hatten sie drei Flaschen mitgenommen. Das gab es an der Adria nicht. Für alle Fälle packte der Vater die Regenmäntel und die Tennisschuhe ein. Kuintas liebstes Beinkleid, die Tiroler Lederhose, falteten sie am Boden des größten Koffers zusammen. Die Tauchmaske wurde im kleineren Koffer mit Luftpolstern eingepackt. Er steckte sie selbst zusammen mit der Pumpe ein. Seit Kuinta diese Maske bekommen hatte, nahm er sie von seinem Kopf nicht ab. Er ging im Hof spazieren, betrat den Stall, wo ihre vier Kühe muhten. Er fühlte keinen Gestank und schlug eines Tages vor, zum Verrichten der Stallarbeit sich selbst eine Maske zu kaufen. Der Vater antwortete klar, was er von diesem Vorschlag hielt: Er zog ihn kräftig am Ohr lang, ohne sich vom kleinen Holzsessel zu erheben, auf dem er beim Melken saß.
Vor Kuinta erschien das Meer: Er senkt das Luftpolster – das große Schiff läuft vom Stapel. Er setzt die Maske auf, jetzt ist er ein wahrer Taucher, nur der Reifen um den Bauch stört ihn ein bisschen. In der Tiefe sieht er Gras und Muscheln. Die Fische lächeln ihn an. Sie führen ihren Mittagstanz an der Klippe auf. Die Sonne stört ihn nicht, weil er gut eingeölt ist.
Die Finsternis hemmte Kuintas Phantasie. Ansonsten ging er auch zu Hause bei Anbruch der Nacht zu Bett; die Städte, an denen der Zug vorbeifuhr, waren selten, daher hatte Kuinta während der nächtlichen Fahrt nicht viel phantasiert. Die karge Dorfbeleuchtung weckte ihn nicht, und entlang der Eisenbahnstrecke waren meistens Dörfer. Schließlich weckte ihn die Zugsirene am Eingang in einen ihm unbekannten Bahnhof auf.
Eilig verließen sie das Abteil, das auch im Nachhinein nach Gummi, Plastik, Sonnenöl und Knochensalbe roch. Kuintas Vater strich sich zweimal täglich ein, weil er furchtbare Rückenschmerzen hatte.
Gerade ihm verdankten sie diesen Sommeraufenthalt, weil er als Arbeiter der Firma SACH zwei Wochen Urlaub am Meer günstig zugeteilt bekommen hatte. Rückenschmerzen hatte er allerdings auch von SACH. Der Geruchscocktail aus dem Zug wird sie ständig begleiten. Damit werden sie auch das Zimmer auf der Insel füllen. So rochen sie später auch am Badestrand, und die Gäste des Genossenschaftsrestaurants drehten sich wiederholt um, um zu sehen, von welchem Tisch sich der Geruch ausbreitete, weil der ganze Saal nach ihrem „Cocktail“ roch.
Der Sommerschauer vertrieb sie von der geräumigen Terrasse, und sie drängten sich alle in einem einzigen geschlossenen Raum zusammen, wo sie ungestört essen konnten.
Alle Koffer bürdete sich der Vater auf, Mutter Elvira trug zwei kleinere Taschen mit Nahrungsmitteln und persönlichen Dokumenten. Kuinta trug nichts. Wenngleich von Mutter Elvira mitleidig angeschaut, musste Klaus auch bei Schmerzen die schwere Last schleppen. Auch so war er schneller als Kuinta, der in kleiner Entfernung dahin wackelte, wie ein Bär brummte und belästigend fragte, ob man ihm aus dem Koffer nicht die Maske und den Schwimmreifen herausnehmen möge. Das Meer war nahe, und wie sollte er es denn zum erstenmal ohne Maske auf dem Gesicht und ohne Reifen um den Bauch sehen!
Nachdem sie die stinkige Unterführung und die Breite des Fußballspielplatzes passiert hatten, war Kuinta müde. Der Vater bot den größten Koffer als Sitzbank an, worauf Kuinta seine Hände ausstreckte, um hochgehoben zu werden. Als er Platz nahm, brummte er, er habe Hunger und könne nicht gehen. Er machte sich erst auf den Weg, als er alle Kekse verspeist hatte, die noch da waren nach der nächtlichen Reise, wo mehr geschlafen und weniger gegessen wurde. Bis zum Hafen hatte er noch zweimal Hunger und Durst. Wegen seiner Langsamkeit und seines unmöglichen Benehmens verpassten sie das Mittagsschiff. Das nächste Schiff fuhr zu ihrer großen Trauer erst um acht Uhr abends.
Die ersten zwei Stunden verbrachten sie im naheliegenden Restaurant. Sie aßen zu Mittag und tranken dazu je einen Orangensaft. Klaus und Elvira beendeten das Mittagessen mit dem Kaffee in kupfernen Tässchen. Kuinta schaute das Ufer an.
Dort fischten einige Männer, ganz am Rand an kleine eiserne Pfeiler angelehnt. In Plastiktüten zappelten die gefangenen Fische, die gut anbissen; sie zogen einen Fisch nach dem anderen heraus. Sie winkten einander zu und sagten etwas zu dem Mann, der mit einem kleinen Schiff die Reisenden auf die andere Seite des Hafens brachte. Kuinta konnte sich nicht genug wundern, wie viele Menschen in so einen Kahn hineinkommen, ohne dass er umkippt. Es schien ihm noch seltsamer, dass ein so überfrachteter Kahn mit Rudern fortbewegt werden kann, von einem kleinen Greis, der unter den vielen am Schiff befindlichen Menschen überhaupt nicht zu sehen war. Mit Leichtigkeit beförderte er immer wieder neue Reisende, die auf der einen wie auch auf der anderen Seite des Hafens ungeduldig warteten. Beim Vorbeifahren rief er sogar den Fischern irgend etwas zu. Vom Gedränge am Schiff sah man nur die kurzen Ruder, die ins schäumende Meer kraftvoll eintauchten. Wütend trieb der Wind die Wellen in den engen Durchgang zwischen dem Leuchtturm und dem Ufer, durch den die überfrachteten Schiffe und Kähne hin und her fuhren. Die einfahrenden Schiffe schaukelten sich auf Wellenkämmen vom Heck zum Bug. Die ausfahrenden Schiffe bohrten träge in die Wellen hinein.
Am besten gefielen ihm Schiffe, die voller Körbe und Kisten waren. Sie bäumten sich auf den Wellen auf und tauchten danach fast vollständig im Gischt unter. Scharenweise flogen die Möwen den Fischereischiffen mit ihren hoch gehobenen Netzen hinterher. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die Schiffe auch unter dem Meer fahren können, weil die mit Sand beladenen Schiffe gar nicht zu sehen waren, ausgenommen die Häuschen mit herausragenden Matrosen am Heck. Er wollte sich dem Ufer nähern. Klaus erfüllte ihm den Wunsch. Die ganze Familie ließ sich am Hafenrand nieder. Als Sitzbank diente wieder der größte Koffer. Es gab genug Platz, und sie konnten von dort aus den Hafeneingang bequem beobachten. So verging ihnen der lange Nachmittag. Hauptsächlich sorglos und interessant, weil ihnen alles neu war: Meer und Matrosen, Schiffe und Kähne.
Indessen brach Kuinta diese Idylle ab. Die Maske und das Luftpolster fielen ihm ein, und er fragte einige Male danach, worauf Klaus aus dem kleineren Koffer nur die Maske herausnahm, die sofort auf Kuintas Gesicht ihren Platz fand. Das unberührbare Meer lockte jetzt Kuinta herbei. Und ihn trieb die Wut, denn er wollte unter die Meeresoberfläche hineinblicken und sich die Unterseewelt anschauen, die er zum Teil durch Fische kennenlernte, die die Fischer am Ufer mit ihren kleinen Angeln auffischten. Hinter ihnen fuhren silberrote und weißblaue Busse vorbei, am Busbahnhof am Ende des Hafens die Fahrtrichtung wendend. Zudem hupten die kleinen Autos, die er zum erstenmal sah, und die Hafenarbeiter antworteten mit Flüchen.
Kuinta kam sich langsam abhanden. Der Schlaf überwältigte ihn, er ermüdete und schlief zwischen Mutter und Vater ein. Frau Elvira legte die zwei kleineren Koffer auf die Steinplatten und platzierte Kuinta drauf, und er schlief weiter. Als der Maestral später kräftiger blies, deckte sie seine Beine mit einem Handtuch zu. Am Hafeneingang begannen sich die Wellen gegen große grüne Steine stärker zu zerschlagen und zu schäumen, und der Kahn, der zwei Ufer miteinander verband, versteckte sich in der Windstille. Kuinta musste gut zugedeckt werden.
Vollkommen ruhig, weil ihn Kuinta nicht mehr belästigte, ging Klaus in die Trafik und kaufte eine Angel. Aus einer Metalldose, in der sie die für den Urlaub besorgten Nahrungsmittel aufbewahrt hatten, nahm er ein Stück Käse heraus, das nach Kuintas Nachtmahl übriggeblieben war. Der Uferrand war wie geschaffen zum Sitzen. Einen halben Meter unterhalb des Randes war ein Holzbalken, auf dem er die Füße erholen konnte.
Nachdem er sich wie andere Fischer niedergelassen hatte, steckte er auf zwei Angeln Käse als Köder auf. Von unten zog nichts, obwohl in der Nähe eine ganze Menge dünner Fischlein vorbeischwamm. In Erwartung, dass endlich etwas an seinen Angeln anbeißt, stand er plötzlich wie versteinert da, als ihn jemand kräftig zum Meer wegstieß. Kuintas riesiger Arm presste seinen Hals, und nach dem Versuch, ihn ins Meer hinunter zu schieben, war er bemüht, ihn auf den steinernen Uferplatten umzuwerfen. Sich vom Balken mit Füßen losreißend, befreite sich Klaus schwerlich aus dieser Lage und verpasste dem unmöglichen Kuinta einen heftigen Backenstreich.
Klaus beruhigte sich, als am Hafeneingang der Dampfer hupte, auf den sie wegen Kuintas Hunger den ganzen Nachmittag gewartet hatten. Er näherte sich, nach links geneigt, weil die meisten Reisenden ungeduldig das Ausschiffen abwarteten. Sie drängten sich aneinander am Zaun, von dem aus die Matrosen große Fender herabließen.
Vom Schiff warfen sie das dicke weiße Schiffstau, und die Landung war erledigt. Aus dem kleinen Rauchfang quoll der dichte schwarze Rauch, und unter der Schiffswand entstanden große Wirbel des schäumenden Meeres. Ungeachtet des Brüllens und der Missbilligung der Matrosen waren einige Jungen hinausgesprungen, ohne abzuwarten, bis vom Schiff das Brücklein herabgelassen wurde. Die anderen gingen langsam der Reihe nach an Land, weil das Brücklein nur je einen Reisenden aufnehmen konnte. Am Ende blieben nur noch einige ältere Männer und Frauen übrig, die schwere, mit Paradeisern und mit duftenden Pfirsichen gefüllte Körbe ausluden. Von den Reisenden, die auf das Einschiffen warteten, stieg Kuinta zuerst ein. Nur mit Mühe ging Klaus mit seinen drei Koffern durch die enge Tür hindurch. Während er sie so abstellte, dass sie nicht stören würden, zeigte er dem Matrosen drei rosenfarbene Pappkarten. Frau Elvira versuchte als Dritte einzusteigen, aber einem kleinen Greis im grünen Anzug gelang es, vor ihr das Brücklein zu betreten. Diesen Vortritt begleitete er sogar mit einem anständigen „Šuldigun“. Kuinta wurde am Schiff vom Maschinenlärm angezogen. Obwohl die Maschine im Unterdeck gut versteckt und geschlossen war, drang ihre kraftvolle und regelmäßige Arbeit in jede kleinste Ecke des hölzernen Schiffes ein. Sie begaben sich zum Heck. Neben der Maschinenhalle spürten sie die warme, nach Erd- und Maschinenöl riechende Luft. Die Schiffsküche roch nach dem soeben zubereiteten Gulasch. Der Koch schnitt gerade die Radieschen und stellte sie in die Schüssel, die mit grünem Salat gefüllt war. Kuinta seufzte. Sie ließen sich am Heck nieder. Dieser Teil des Schiffes war zweigeteilt. Durch den Metallzaun war ein korbähnlicher Raum abgetrennt, in dem, wie Schlangen zusammengefaltet, Taue in verschiedenen Farben standen. Eines aus diesem Knäuel hielt durch eine kleine Öffnung am Zaun das Schiff am Ufer fest. Zwischen dieser Umzäunung und dem Salon gab es noch Platz, so konnten sich Kuinta, seine Mutter und sein Vater hinsetzen.
Sie besetzten die enge Bank, die sie aufhoben und durch Metallfüßchen abstützten. Kuinta war entschlossen, sich von dieser Bank nicht zu rühren. Klaus fand es auch schöner und gemütlicher, draußen zu sitzen und die frische Meeresluft einzuatmen, als dass sie im Unterdeck in abgestandener, nach Erdöl riechender Luft erstickten.
Bei Dämmerung fuhr das Schiff Richtung Insel los. Vor der Abfahrt gingen die Lichter der Stadtbeleuchtung an. Die ankommenden Busse konnten mit ihren Lichtern kaum die Blendung der phosphoreszierenden Beleuchtung durchbrechen, die, wie ein Cape ausgebreitet, auf das steinerne Ufer herabfiel. Sie fuhren rückwärts, sodass von ihrem Platz aus der Rest der Stadt, auf der anderen Seite des Hafens die Werft und im beleuchteten Dock ein großes, in Reparatur befindliches Schiff schön sichtbar waren. Von allen Seiten flogen durch Verschweißung ausgelöste Funken, und man hörte anhaltendes Getöse, weil die Arbeiter auf Schiffsblechen trommelten.
Am meisten angezogen fühlte sich Kuinta vom Äußeren des Unterdecks. Bisher hatte er es noch nie gesehen. Am besten gefielen ihm das große Steuerruder und die große Schiffstreibschraube. Neben dem Dock angebunden waren ein größeres schwarzes Schiff und noch einige kleinere Schiffe, die auf Reparatur warteten. Infolge des mühsamen Fortkommens bebte ihr ganzes Schiff, weil es durch die Schwerkraft des Rückwärtsfahrens angehalten wurde. Eine Zeitlang fuhr es auf der Stelle, bis es durch das heftige Vorwärtsfahren aus dieser unangenehmen Lage befreit war. Linkerseits blieb die Stadt zurück. Rechts erstreckte sich das Dunkel des Seekanals. Der Blick reichte bis zum Rand des Lichtes, das von schwacher Schiffsbeleuchtung auf das schäumende Meer geworfen wurde. Am schönsten war der Wellenkamm, der halbiert im Dunkeln verschwand. Leicht schnitt der Bug den ruhigen Kanal, wie wenn man mit einer großen Schere einen dünnen Webstoff schneidet. Aus der Tiefe, aus der die Finsternis kam, flimmerten die Lichter der Kerzenlichtzieher. Als das Schiff zu wenden aufhörte und seine gängige Route einnahm, tauchten aus der Bugrichtung winzige Lichter der entfernten Insel auf.
Als sich Klaus in den Duft der warmen Julinacht gerade erst vertieft hatte, wurde er jäh unterbrochen. Am Heck erschienen zwei ältere Männer, an etwas längerer Leine einen mageren Setter ziehend. Der Hund suchte sich stets zu entziehen, der jüngere Mann aber ärgerte sich fortwährend und brüllte den Hund an. Der bärtige Mann bemühte sich, dem Hund das „Sitz“-Kommando zu erteilen, aber er hatte keinen Erfolg. Der Hund hörte auf ihn nicht, er versuchte, über den Metallzaun zu springen und sich unter den Tauen zu verstecken. Am Ende dieser Überlistung blieb der Hund beim Poller stehen und hob das Bein. Rasch begab sich der Strahl zu Kuintas Bein und wendete sich abprallend zu Klaus, der es erst dann bemerkt hatte, als Kuinta anfing, mit seinen Füßen in der Pfütze zu planschen. Jetzt brüllte Klaus Kuinta gleichermaßen wie der bärtige Herr den Hund an. Mit hohem Tonfall befahl er ihm, er möge sofort zur Ruhe kommen und aufhören, mit seinen Füßen im Urin zu planschen.
Während Klaus brüllte, hörte ihm Kuinta nicht zu, weil er mit einem anderen Vorhaben beschäftigt war. Er wollte die Schnauze des Hundes berühren. Gewissermaßen ging er mit sich selbst eine Wette ein. Wenn er die Hundeschnauze berührt, würde es ihnen bei diesem Sommerurlaub gut gehen, und wenn es ihm nicht gelingt, sie zu berühren, ginge es ihnen schlecht. Solche Abmachungen machte er normalerweise im Sonntagszug, der nach Graz fuhr, nur konnte er es dort wesentlich leichter bewerkstelligen. Er hätte nur die Ameisen berühren sollen, die aus Holzbänken hinausgingen. Nur hätte er aufpassen sollen, um sie nicht zu zerdrücken. Niemand konnte seine Arbeit bemerken, und er vermochte dieses Geheimnis lange zu bewahren. Er hatte wirklich leichte Arbeit. Weitaus schwieriger war es für ihn heute Abend. Die Hundeschnauze, eigentlich eine fremde Hundeschnauze in einem fremden Land berühren. Die Schnauze eines erschreckten und nervösen Hundes. Die Sonntagsfahrten nach Graz endeten immer glücklich, weil Kuinta am frühen Morgen im Abteil eine Ameise gefunden und mit seinem dicken Finger berührt hatte. Jetzt musste er noch bis fünf zählen. Diese Zahl gefiel ihm sehr gut, daher zählte er bis fünf. Bis dahin hatte sich aber der Hund nicht beruhigt, er wurde sogar nervöser. Kuinta gab sein Vorhaben auf. Er wagte es tatsächlich nicht, sich dem Hund zu nähern. Auch wenn er ruhig gewesen wäre, würde er ihm nicht nahetreten, zumal er bemerkte, dass der Setter große und scharfe Zähne hatte. Seine ganze Aufmerksamkeit galt nun den Rettungsgürteln, die im Raum oberhalb seines Kopfes eingefügt waren.
Er entschloss sich, eine andere Wette einzugehen. Er sollte einen der ordentlich zusammengefalteten Gürtel berühren. Aus der Sitzposition heraus konnte er das nicht. Daher nutzte er den Augenblick, in dem er das Gefühl hatte, dass Vater und Mutter im Gespräch vertieft waren. Es gelang ihm, durch die schmale Öffnung zwischen zwei Latten das Leinen des Gürtels zu berühren. Bevor ihn Klaus schreiend auf die Bank setzte, schaute er kurz zum Heck. Vom Ufer waren sie schon weit entfernt. In der Ferne blieb die Stadt wie ein Heiliger mit dem glänzenden Nimbus oberhalb der Dächer zurück. Es tat ihm Leid, dass er nicht bis fünf gezählt hatte. Die Wette war nicht vollständig. Das machte ihm Sorgen.
In der Nähe der Insel waren sie ganz verwirrt. Niemand in der Familie konnte mit Sicherheit sagen, wo sie ausgeschifft sein würden. Von überallher flimmerten die Lichter. Erst als das Schiff langsamer wurde, erblickten sie den Hafen. Am Ende des Ufers ging grünes Licht an und aus und wies dem Schiff die Richtung. Dem Kapitän war es gelungen, geschickt den Kanal zu erreichen und zu landen.
An der Küste warteten viele Leute auf sie, meistens darunter die Kinder. Als über das geneigte Brücklein – das Ufer war auf der Insel niedrig – die ersten Touristen an Land kamen, wurden sie von den Kindern wie von einem Bienenschwarm überfallen. Die Kinder versuchten, ihnen die Koffer zu entziehen, und zwar mit der eher zufälligen Frage „Bittetragen“, die sie erst dann aussprachen, als der Koffer schon in ihrer Hand war. Ehe sich Klaus angesichts der ausgesprochenen Formel „Bittetragen“ zurechtfand, waren auch seine Koffer im Gedränge verschwunden. Den größten nahm ein magerer Junge und ging in der Menschenmenge verloren. Er konnte zwar dem Koffer folgen, den Jungen aber sah er nicht. Den mittleren Koffer nahm ein kleiner, sommersprossiger und barfüßiger Kerl, während er sich nach dem größten umzusehen versuchte. Übrig blieb ihm nur der kleinste Koffer.
Die Jungen drängten sich vor ihm durch die Menge wie afrikanische Träger in der Savanne. Noch schlimmer als das Gras drückte die Menge die Träger, die sich mühsam drängten. Sprachlos ergriff Klaus Kuinta und begann sich hinter ihnen her zu drängen.
Die Kinder waren ihm mit den Koffern weit voraus. Er bemerkte sie an der Wendung beim Denkmal. Er bekam Angst vor dem Gedanken, die Jungen könnten die Koffer verlegen oder gar verlieren, und das hättte man ja erwarten können wegen des großen Gedränges, in dem gleichzeitig das Gepäck neuer Touristen hinübergetragen wurde. Er hätte die Jungen schnell eingeholt, aber Kuinta hinderte ihn daran. Fortwährend stockte er irgendwo. Dort, wo er einen Durchgang für sich fand, konnte er ihn nicht für Kuinta finden, daher hatte sie Frau Elvira überholt. So sahen sie, wie sie den Jungen auf Schritt und Tritt folgte. Sie war auffällig mit ihrem weißen Frottierkleid.
Angst und Unbehagen hörten schnell auf, als beide gesehen hatten, dass Koffer und Träger auf sie warten. Vor der Tür gestoppt, an der mit dunkler Farbe geschrieben stand: Turist-biro. Im Büro wurden sie mit einer angenehmen Stimme willkommen geheißen, und der Chef gab ihnen persönlich die Adresse, wo sie für die nächsten vierzehn Tage eingeteilt waren. Sie zeigten sie dem Mageren, und begriffen alsbald, dass sie bei seinem Großvater einquartiert sein würden. Gleich gab ihm Klaus vier rote Geldscheine und deutete ihm, dass sie das Geld unter sich teilen sollen. Ein Teil des Weges verlief ruhig, dann aber kam es zwischen dem Mageren und dem Sprossigen zum Streit wegen der Geldteilung. Ein Koffer von Klaus hätte beinahe im Meer geendet.
Die Österreicher verstanden sie nicht, aber die Passanten blieben zuweilen stehen, weil der Sprossige die Hälfte des Geldes laut in Anspruch nahm, während der Magere das ablehnte. All das würzten sie mit saftigen Flüchen. Der Sprossige konnte dem Mageren das Geld nicht entziehen, er schimpfte ihn ordentlich aus, und der Magere stieß ihn heftig zum Meer weg. Der Sprossige taumelte, ließ den Koffer von Klaus heraus, und der Koffer blieb am Uferrand stehen. Es roch nach Rauferei, aber Klaus konnte sie voneinander trennen. Die Koffer bekam er nicht zurück, weil die Jungen nicht willens waren, sie aus ihren zähen Händen herauszulassen.
Die Kolonne dehnte sich jetzt aus. Frau Elvira war an der Spitze. Vom Chef bekam sie die Adresse mit Anweisungen und hatte die Absicht, das Haus selbst ausfindig zu machen. Laut Chef sollte sie nur dem Steinweg entlang des Ufers folgen, beim Restaurant links abbiegen und die steile Gasse hinaufsteigen. Er sagte, es gebe in der Gasse mehrere Häuser, das richtige Haus werde sie aber an einigen schönen Oleandern wiedererkennen. Klaus folgte ihr, er hörte dem Chef nicht zu, weil er wegen der Jungen besorgt war. Kuinta wackelte hinter ihnen her. Die Träger gingen zuletzt.
Der Weg zog sich in die Länge, weil man von einer zur anderen Seite des Ortes gehen musste. Sie dachten, sie würden das Haus nie erreichen, besonders als sie zu jenem Teil des Weges kamen, der einer tief in das Festland eingezogenen Bucht folgte. Das Meer beruhigte sich ganz. Als ob es nicht existieren würde, als ob es ruhig geschlafen hätte. Sie konnten es berühren, aber sie konnten es nicht hören. Auch der Ort schlief. Die Straßenlichter blieben allein.
Vor dem Genossenschaftsrestaurant spielte der Magere abermals einen Streich. Er näherte sich Kuinta und stellte ihm ein Bein. Kuinta fiel mit seiner ganzen Länge und Breite hinunter und zischte vor Schmerzen. Der Schuldige fand sich zurecht und deutete mit dem Finger auf den Sprossigen, der schnell in seiner Schuld versunken war. Es half ihm nicht, als er auf den Mageren zu deuten versuchte. Er war einfach dieser andere. Klaus lief auf ihn zu, und er verschwand wie ein Pfeil in der Finsternis.
Inzwischen weinte Kuinta fast nicht mehr. Er rotzte noch ein bisschen und wischte seine angeschlagenen Knie ab. Mit Hilfe des Mageren stand er auf und wartete auf den Vater. Der Sprossige, obgleich unschuldig, hatte sie alle geplagt. Klaus schnaufte, weil er gelaufen war. Der Magere machte eine unschuldige Miene. Und er wirkte dadurch ziemlich überzeugend.
Und dann hörte man die Stimme von Frau Elvira. Sie rief nach ihnen, obgleich sie sie nicht sahen. Während sie sich auseinandersetzten, hatte sie das Haus mit den Oleandern gefunden.
Alle gingen in den Hof hinunter; dort erwarteten sie ein kleiner Greis und eine alte Frau, von der man nur den Mund, die Nase und die Augen sah, weil sie im Dunkeln stand und schwarz angezogen war. Mit einem schwarzen Tuch verhüllt. Der Alte führte sie zum Zimmer im ersten Stock. Die Alte verschwand in der Finsternis des Erdgeschosses.
Der Magere blieb allein. Er steckte die Hand in die Tasche und zog das Geld heraus. Er zählte vier Scheine und rechnete aus, wieviel Eis und Kuchen er morgen in der Konditorei kaufen würde. Seine Freude verdarb ein Stein, der durch das dichte Rebenlaub hindurch mit heftigem Gepolter in den steinernen Hof hinunter fiel. Er floh ins Haus, den Sprossigen verfluchend.
II.
Sie wurden von einem frischen, mit saphirblauem Himmel überdachten Morgen geweckt. Als Erster schaute Klaus zum Fenster hinaus. Wie vorige Nacht war das Meer ganz still. Niemand war am Badestrand. Die Stille begeisterte ihn. Er setzte fort, das saubere Meer, das ihn mit vollständiger Klarheit anzog, zu betrachten. Vom Fenster aus sah er ganz deutlich die Steine, das Seegras und den Sand. Seltene Passanten trugen frisches Brot nach Hause, in Plastiknetzen große Brotlaibe, rosiges Gebäck und Milch in Flaschen. Klaus rief Frau Elvira, weil er ihr einen Kahn zeigen wollte. Dort war der Ruderer gerade stehengeblieben, er hob die große Stange auf und schlug damit unter der Oberfläche. Vom Boden hob er einen Fisch auf, er nahm ihn vom Hakenspieß ab und setzte die Fahrt entlang des Inselrandes fort. Während sie sich zum Frühstück fertigmachten, nahmen nur einige Badegäste am Strand Platz. Die Begeisterungsrufe freudiger Badegäste hörte man nicht. Von diesem Chor wurden sie später öfter geweckt. Ein Chor, der mit dem leisen Gesang unartikulierter Stimmen einsetzt und den ganzen Tag lang konzertiert, besonders am Nachmittag, weil gerade dann die meisten Badenden die Erfrischung im Meer suchen.
In diesem Gedränge sind meistens die Kinder da, und mit ihrem Gequieke und Geschrei tragen sie auch erfolgreich zur Kraft des Badechores bei. Wann immer sie einander bespritzen, schreien sie zufrieden. Sie sträuben sich laut, wenn sie jemand ohne Grund eintaucht. In der Furt nahmen sie Sand heraus, um sich dann damit gegenseitig zu bewerfen; so vervollständigten sie den Chorgesang mit Gejammer und Geschrei. Solche Töne aber hörte Klaus selten, denn im Sommer überwiegt doch das Gelächter. Manchmal weinten die Kinder an der Promenade. Das störte ihn am meisten. Dieses Spiel, das mit dem Weinen endete, hatten der Magere und der Sprossige mit ihren Kumpeln begonnen. Sie zielten aufeinander mit Drahtschleudern, und wenn das Drahtgeschoß eine nackte Hüfte oder ein Gesicht traf, wurden dadurch unerträgliche Schmerzen und Tränen hervorgerufen.
Er blickte von der Terrasse herunter, wie sich die Kumpelgruppen versammelten und einander zu überlisten und zu besiegen trachteten. Der leere Strand und die Promenade – die Gäste sind gerade beim Essen – wird vom Weinen des Besiegten erfüllt. Er hörte später vom Kellner, dass dieses Geschrei bis September andauert.
In der ersten Septemberwoche gehen alle Touristen weg, und dann verbringen auch die Kinder weniger Zeit am Meer. Morgens gehen sie mit großen Schultaschen in die Schule, nachmittags kehren sie mit traurigen Blicken zurück. Zwar ist ihnen das Meer nahe, aber nach diesen Sommervergnügungen können sie nicht einmal ihre Füße in warmes Flachwasser hineintunken. Einzig bleibt ihnen übrig, die Scharen junger Meeräschen bei ihrer Suche nach Nahrung anzuschauen.
Am schnellsten war Kuinta. Als Erster wusch er sein Gesicht im Waschbecken. Als Erster probierte er den Hofabort aus. Als Klaus nach ihm durch die vertrocknete Holztür hinausging, war er ganz verärgert, weil er am Loch in der Zementbank sitzen musste. Noch mehr störte ihn ein Fensterchen, das, da die Straße höher als der Hof lag, nur einen halben Meter darüber hinausragte. Vor dem Straßenblick schützte sie ein kleiner Vorhang, eigentlich ein schäbiger Lappen, der auch beim kleinsten Wind flatterte.
Die nahe Restaurantterrasse war durch die hohe Hecke beschirmt. Junge Lindenbäume machten den Schatten. Hohe Pyramidenpappeln ragten aus diesem Dickicht wie Wächter empor, mit ihren Speeren wachsam drohend. Sie gingen in derselben Reihenfolge hinein. Zuerst Kuinta, dann Klaus und Frau Elvira. Ungefähr dementsprechend war auch ihr Hunger. Durch die Lindenkronen schien scheu die Morgensonne. Helle Pfeilchen wurden zurückgeworfen von Metallkannen, die ein junger, großer Kellner auf dem überfüllten Servierwagen von Tisch zu Tisch austeilte. Kuinta führte sie zum Tisch, der neben der grün gestrichenen Wand ganz am Ende der Terrasse stand. Er wollte beim Essen dem Meer zusehen. Klaus gefiel das auch, weil sich von dort der Blick Richtung Strand und Ort bot. Er konnte eine größere Meeresoberfläche bis hin zur kleinen Insel beobachten. Die Fischereischiffe kehrten vom Nachtfischfang zurück. Sie fuhren in den Hafen ein und landeten neben dem großen Deich gegenüber der kleinen Insel. Flink sprangen die Matrosen von den Schiffen herunter und nahmen die hingeworfenen Taue entgegen. Sie riefen etwas aus, was Klaus nicht verstand. Die kleine Barke setzte die Touristen auf die kleine Insel über. Sie verschwanden vom Ufer in dichten Kiefern, die das Kloster verbargen.
Unten am Badestrand, neben der Mulde eines herausgezogenen Schiffes, sammelte der Strandkehrer Abfall und sang. Vorläufig ging er durch die ganze Bucht und zog aus dem Meer abgerissenes Gras, Plastiktüten und sonstige Embalagen heraus, die von der Meeresströmung in die Furt getrieben wurde. Im Flachwasser liefen Kinder herum, und Frauen gingen an der Bucht vorbei, aus dem Lebensmittelladen Taschen voller Nahrungsmittel tragend. Aus der Ferne näherte sich ein Motorboot, und sein immer stärker werdender Lärm reichte bis zur Terrasse.
Der Kellner brachte auf dem Servierwagen Butter, Brot, Salami und Milch. Er lächelte sie an und scherzte gleich mit ihnen. Er war jung, groß und schwarzhaarig. Er blieb ihnen in angenehmer Erinnerung, weil er mit allen Spaß machte: mit jungen Serviererinnen, mit seinen Kollegen und mit Gästen. Obgleich die Witze, die er zu erzählen pflegte, manchmal viel zu saftig waren, nahm man es ihm nicht übel. Der Höhepunkt seines Temperaments kam immer dann zum Vorschein, wenn die Terrasse ganz voll war. Während die Gäste mit dem Essen beschäftigt waren, warf er absichtlich den großen Metallteller auf den Fußboden, sodass allen Gästen der Bissen in der Kehle stecken blieb. Aber auch daran gewöhnten sie sich, als ob es sozusagen ein Teil der Zeremonie auf der Restaurantterrasse gewesen wäre.
Das Frühstück schmeckte ihnen gut. Es war nicht gerade ausgiebig, die Butter entsprach ihnen, aber besonders gefiel ihnen die Milch. Als wären sie zu Hause, aß Kuinta schnell alles auf, und während sie ruhig ihre Milch austranken, schaute er auf die Straße. Er sah den Mageren und den Sprossigen barfuß durch den Sand gehen. Auch sie verloren sich im Gedränge der Menschen, die in den Lebensmittelladen gingen, der Touristen, die zum Restaurant, oder vom Restaurant zum Badestrand gingen.
Die Familie ging zum Badestrand hinunter. Das stille Meer erwartete sie, aber der zementierte Strandteil war schon besetzt. Daher rückten sie etwas weiter ins Gras und breiteten ihre Requisiten aus. Kuinta war mit großen Schlössern, die er aus Sand machte, beschäftigt. Zuerst tunkte er alles gut mit dem Meerwasser, dann stopfte er sein Eimerchen mit viel Sand, damit seine Festung möglichst regelmäßig wurde. Er machte auch Kanäle, eine kleine Brücke aus Holzresten, die er unter der Mulde des herausgezogenen Schiffes gefunden hatte.
Aus kleinen Tamariskenzweigen machte er sogar den Wald. Und während er in die Festung Flaggen einsteckte, die aus Tütenresten gemacht waren, stießen der Magere und der Sprossige im Laufen auf sein Schloss und zerstörten ihm alles. Zudem wurde er mit dem schmutzigen Wasser aus seinen Kanälen von Kopf bis Fuß bespritzt.
Er heulte aus aller Kehle, worauf Klaus wie verbrannt herbeilief. Kuinta zitterte. Große Tränen flossen von seinem Gesicht herunter, mit Sand und schmutzigem Wasser vermengt. Er deutete dem Vater auf jene zwei von gestern Abend, die mit einem anderen Geschäft befasst waren. Im naheliegenden kleinen Hafen sprangen sie von einem Kahn zum anderen.
Klaus duschte seinen verweinten Sohn gut und legte ihn auf das Luftpolster, damit er ein bisschen zur Ruhe kam. Kuinta konnte jedoch nicht ruhig sein, und als Klaus ins Meer hineingehen wollte, war er ihm auf den Fersen mit der ganzen Ausrüstung. Kuinta war tatsächlich komisch an jenem Morgen am Badestrand. Der große Autoreifen passte gerade noch zu seinem Bauch, weiße Gummipatschen schützten seine Füße, und seinen Kopf bedeckte eine große Atemmaske, bei der die Luftzufuhr mittels eines Tischtennisballs angehalten wurde. Der Vater half ihm, ins Meer hineinzugehen, aber er musste auch neben ihm bleiben, weil man Kuinta nicht einmal im Flachwasser allein lassen konnte. Er war dick und unsicher, und sein Schwimmen endete mit einer Wendung nach unten. Mit dem Kopf gegen den Boden.
Andererseits war all das für Kuinta unterhaltsam, denn er wusste, dass sein Vater ihm auf Schritt und Tritt folgt und den Autoreifen festhält. Er schaute im Flachwasser nach kleinen Fischen und Muschelchen. Unbekannte Fische schwammen voraus und verschwanden im trüben Wasser. Am meisten gefielen ihm jene vom
Boden. Sie waren gelblich, mit grünlichen Augen im großen Kopf. Sie standen ruhig da, sogar als er genau über ihnen war. Sie rührten sich erst dann, als er sie beinahe zertreten hätte. Sie rückten gar nicht weit, sie brachten sich nur in Sicherheit, weiter weg von Kuintas Füßen. Interessant waren für ihn auch die Muschelchen. Sie machten im Sand Pfädchen, ihre schweren Häuschen schleppend. Aus einigen Muscheln ragten kleine Krebse heraus, und die Häuschen wechselten schneller den Ort. Er schaute sich gerne auch die Füße anderer Badender an. Furchtbar sahen sie aus, unter dem Glas seiner Maske vergrößert. Diese großen Füße hoben vom Meeresboden Sandwölkchen hoch.
Die Nachmittage waren für sie nicht interessant. Der Badestrand war gegen ein Uhr ganz voll, und man konnte in Ruhe weder rasten noch baden. Am schlimmsten waren Kinder. Sie sprangen vom Ufer ins flache Meer hinunter und bespritzten reichlich alle Badenden (was sie auch wollten). Die Jungen liefen im Flachwasser herum, und man musste ihnen aus dem Weg gehen. Am eifrigsten dabei waren nach wie vor der Magere und der Sprossige. Jetzt tauchten neben ihnen noch einige Jungen auf. Einer war groß, er sah wie ein erwachsener Mann aus, mit dem großen Kopf und mit großen Händen; und noch zwei weitere Jungen, die ungefähr so waren wie der Magere und der Sprossige, aber ein bisschen beleibter. Fortwährend trieben sie ihre Spiele am Badestrand. Beim Fangen spielen liefen sie um die Touristen herum, die ruhig dalagen. Der Große sprang manchmal über einen eingeschlafenen Touristen, und beim absichtlichen Sprung ins Meer erzeugte er immer die größte Welle.
Zuweilen waren solche Spiele für alle belastend, als sie etwa aus dem Meer Krebse herausnahmen und damit die Touristen bewarfen, oder als sie die Krebse ans Ufer holten, um sie dann vor ihnen zu zertreten. Das störte besonders die Österreicher, die sie nach einem solchen Spielschluss gewöhnlich fortzutreiben pflegten. Klaus und Frau Elvira verabscheuten solche Spiele, sie protestierten am lautesten dagegen.
Am späten Nachmittag wechselten sie mit dem Spiel zum Flachwasser über. Sie bewarfen sich mit Schlick, am schlimmsten aber war das Spiel, bei dem sie sich mit Seegurken bewarfen. Von der Restauranttterrasse aus schaute Klaus gegen Abend genussvoll ihrem Spiel zu. Nachdem auch der letzte Bader den Strand verlassen hatte, kamen die Jungen mit einem schweren, auf einem Zementsockel stehenden Abfallkorb herbei. Sie machten ein Labyrinth im Sand. In diesem Labyrinth spielten sie Fangen. Sie hatten interessante Regeln, und das Spiel war voller Überraschungen. Ein Junge hatte die anderen zu fangen, aber die vielen parallel verlaufenden Wege, die sich nahezu berührten, machten es auch anderen Jungen möglich, mitzulaufen, aber er konnte sie nicht fangen, weil sie jeweils auf einem anderen Weg waren. Um an sie heranzukommen, musste er einen vollen Kreis herumlaufen. Wenn jemand in eine Sackgasse geriet, konnte das Spiel enden. Oft endeten sie mit Streit, sodass die ganze Bucht von ihrem Geschrei, von lauten Beteuerungen und Beleidigungen ertönte. Im Dunkeln verschwanden die Jungen aus dem Blickfeld, aber tagsüber waren sie so etwas wie Wahrzeichen oder Besitzer in ihrem Teil des Ortes, des Badestrandes und des kleinen Hafens. Von überallher tauchten sie auf, sie hielten sich überall auf und steckten ihre Nasen in alles, gleichsam wäre es ohne sie langweilig gewesen. Mit der Dunkelheit zogen sie sich dann doch zurück.
Zu diesem Zeitpunkt gingen Frau Elvira, Klaus und Kuinta spazieren. Nach einem guten Abendessen natürlich. Manchmal schloss sich ihnen ein betagter Herr aus dem Ort an, ein alter k.u k.-Offizier, der gut Deutsch konnte; er erzählte ihnen von Ausflügen, aber er machte sie auch mit dem Ort und mit dessen Geschichte vertraut. Während der schwülen Sommerabende besetzten die Einheimischen die Bänke am Meer, und sie konnten dem müden Kuinta kein Rasten gönnen. Wie üblich zeterte er, er sei müde, er könne nicht mehr gehen, und so unterbrach er das Gespräch. Der junge Restaurantkellner brachte Klaus bei, wie man grüßt, so konnte er den Leuten guten Abend wünschen. Das war für ihn interessant, die Leute grüßten höflich zurück. Morgens und tagsüber begrüßte er schön die Hausbewohner auf dem Weg von ihrem Zimmer zum Restaurant.
Er sah, dass die Menschen höflich sind, und hätten sie seine Sprache sprechen können, würden sie bestimmt mit ihm einige Zeit im Gespräch verbringen. Manchmal bemühten sie sich sogar und sprachen umständlich irgendein deutsches Wort aus (eigentlich waren dies auch ihre Worte, aber mit deutschem Akzent). Einige versuchten, ihm etwas zu sagen, mit Gebärden und Grimassen oder winkend.
Unterwegs duftete alles. Aus allen Gärten schauten bunte Blumen heraus. Meistens gab es Oleander. Rote, weiße und gelbe. Am eindringlichsten war, wie Klaus erfahren konnte, der Duft von Röschen, die auch in ihrem Garten die alte Frau hatte, bei der sie schliefen. Doch am schönsten waren für ihn die Margariten. In jedem Garten gab es mindestens je zwei Sträucher gelber und weißer Margariten voller Blüten. Jeden Abend, als sie zum Abendessen gingen, begossen ältere Frauen ihre Margareten, weil sie das Wasser nötig hatten. Aus der Zisterne schöpften sie Wasser in Eimern und gossen es dann in Metallgießkannen über. Sie gingen von Blume zu Blume und belebten sie mit Freude.
Die Tage vergingen normal, mit vielen Überraschungen. Daher gingen sie auch in Urlaub, aber die Nächte waren ziemlich schwer. Den größten Kummer bereiteten ihnen die Gelsen. Selbstverständlich war Kuinta das Opfer, daher hatte Klaus einen guten Teil der Nacht über seinem Bett gewacht. Die Nächte begannen ruhig. Vom Tagesgeschehen erschöpft, schliefen alle schnell ein: vom Schwimmen, vom Sitzen in der Sonne, von langen Spaziergängen. Bis spät in die Nacht mussten die Zimmer ganz geöffnet bleiben, weil die Hitze den ganzen Tag in die Häuser eingedrungen war. Schnell waren die Zimmer voller Gelsen. Klaus nahm die Polster und schlug damit gegen die Wände und das Gewölbe, bis die letzte Gelse weg war. Wenn er gewusst hätte, dass die Nächte an der Adria wegen der Gelsen unerträglich sein würden, hätte er gewiss ein Mittel besorgt; so fand er sich mit dem Polster zurecht, weil er im Ortsladen keinen Spray finden konnte. So etwas hatte an der Adria noch keine Verwendung gehabt. Es war mühsam, einen Teil der Nacht beim Gelsentöten zu verbringen. Zuerst in Kuintas Zimmer, dann bei Frau Elvira. Als diese Übung zu Ende war, wobei er auf Stühle und Betten kletterte, fing die zweite Tortur an. Lange konnte er nicht einschlafen. Er hatte keine Ruhe. Es juckte ihn am ganzen Leib. Obwohl es am Badestrand eine Dusche gab, ätzte ihn das Salz überall. Er spürte es in seinen Ohren, an den Händen, am Gesicht. Im Haus, in dem sie untergebracht waren, gab es kein fließendes Wasser, und so konnten sie nur im Waschbecken Gesicht und Hände waschen. Er konnte keinesfalls das Salz ganz abwaschen. Die Duschen am Badestrand waren an einen Brunnen angeschlossen, in dem sich Meer- und Quellenwasser vermischten, sodass auch das Duschen unnützlich war. Eine halbe Nacht lag er wach und konnte erst dann schlafen. Die morgendliche Frische half ihm beim Einschlafen. Sie kam aus dem Seichtwasser, das nachtsüber abgeebbt war. Dann versank er im Schlaf.
Am siebten Tag ihres Sommeraufenthalts wachte Kuinta als Erster auf. Schnell zog er sich an und ging in den Hof. Das Haus, in dem sie logierten, hatte einen geräumigen, geschlossenen Hof. Einerseits waren da die verlassene Werkstatt, die Tischlerei und der Stall. Auf der anderen Seite starrte die hohe Mauer mit dem Hofeingang. Die dritte und vierte Seite schlossen zwei Flügel des Hauses ab. Sogar ein Teil des Nachbarhauses schloss die vierte Seite ab, und die Touristen sahen manchmal die Frau des Nachbarn, wie sie über die Fensterbrüstung den Teppich aushängte. Für sie waren offensichtlich die Touristen interessant: Wann seien sie denn aufgestanden? Was hätten sie vor dem Frühstück gemacht? Und es war ihr behaglich, den Teppich über die Fensterkante hinauszuhängen und dabei einen Blick in den benachbarten Hof zu werfen. Erst am Abend räumte sie ihn weg, denn sie hatte Lust, auch später zu schauen, was die Touristen beim Nachbarn vor dem Abendessen machten. Aber die Touristen beim Nachbarn waren ruhig und uninteressant. Mann und Frau wechselten hin und wieder ein paar Worte, und der dicke Sohn sprach wenig.
Jetzt sah sie ihn, wie er über den Hof ging; er betrat den Abort, der sich zur Gänze unter dem Straßenniveau befand, nur das Fensterchen erhob sich einen halben Meter oberhalb des zementierten Gehsteigs. Es gelang ihm nur mit Mühe, die Tür zuzumachen, und er setzte sich gleich aufs Abortloch. Es war die Notdurft, das weckte ihn auch, und so war er zufrieden. Den so beschäftigten Kuinta erschreckte eine Gestalt am Fensterchen, die den dunklen Vorhang wegrückte. Das war der Magere, der zuerst lachte und dann Kuintas Gesicht mit voller „Spritze“ bespritzte (so nannten die Kinder ein leeres, mit Wasser gefülltes Sonnenölfläschchen).
Kuinta stand wie verbrannt auf, es gelang ihm nicht einmal, die Hose hochzuziehen. Bis zum Zimmer stolperte er oft und fiel schließlich mit seiner ganzen Länge und Breite auf den Fußboden. Halbnackt landete er bei den Eltern. Klaus zog sich an und ging rasch hinaus. Dort warfen der Magere und der Sprossige einander den Ball zu. „Was machst du?“, lautete seine Frage, die sie gut verstanden, wenngleich sie die Bedeutung seiner Worte nicht wussten. Sie spielten jedoch weiter, als ob sie von nichts Bescheid wüssten. Sie warfen einander einen alten durchbohrten Ball zu, wovon die ganze Straße ertönte. Zweimal trafen sie ihn wie zufällig mit diesem hohlen Ball, worauf er wütend wurde und ihnen den Ball wegnahm. Drohend sagte er zu ihnen: „Nicht spritzen!“ und ging ins Haus zurück. Nach seinem Weggehen nahmen die beiden ruhig ihre gefüllten „Spritzen“ aus der Mauer heraus, für neue Streiche bereit.
Kuinta ging nicht mehr hinaus, so bespritzten sie die Wand und machten Figuren, solange das Wasser reichte. Der Magere wurde von seiner Grußmutter gerufen, Milch zu trinken, und sein Spiel war zu Ende. Als die Österreicher an der Küche vorbeigingen, grinste er Kuinta an, so frech er konnte, weil der doch vor seinen Großeltern Angst hatte. Auch das bemerkte Klaus, aber im Haus konnte er ihm nicht drohen. Er war ja beim Großvater des Mageren untergebracht. Am liebsten wollte er dem Jungen kräftig die Ohren langziehen, aber auch das konnte er nicht tun im Beisein der Großeltern, die aus Metallschalen im Milchkaffee getunktes Brot aßen.
Für die Touristen begann ein neuer Tag! Zwar nicht glänzend, wegen des Streichs, den der Magere gerade vollführt hatte. Am meisten störte Klaus dieses wilde Verhalten des Mageren und des Sprossigen seinem Kuinta gegenüber. Er tröstete sich damit, dass immerhin der halbe Urlaub in Ordnung vor sich ging. Es ging ihnen nicht schlecht, nur hatten sie stets Probleme mit Kuinta, oder Probleme mit ihm bereiteten ihnen der Magere und der Sprossige. Sie bekamen eine gute Hautfarbe, sie badeten, soviel sie wollten, und die Verpflegung im Restaurant war nicht schlecht. Und wenn man noch hinzufügt, dass sie der junge Kellner mit einem Lächeln bediente, mussten sie zufrieden sein. Ein kleines Problem stellte ihnen die Unterkunft dar. Am ärgsten störten sie die Gelsen.
Er dachte darüber nach, wie denn dieser Magere zu bestrafen wäre, der der Urheber all der ihm missfallenden Streiche war, welche sein Kuinta mit Knieverletzungen und Tränen bezahlte. Schließlich kam er zum Entschluss, alle Hilfsmittel – die Maske, die Luftpolster, den Rest des Sonnenöls, die Gummipatschen und den leeren Autoinnenreifen wieder nach Österreich mitzunehmen. Er wusste sehr wohl, dass der Magere erwartete, die Touristen würden für ihn etwas dalassen, das würde er aber von ihm nicht erleben. Er entschied sich dafür und verstand es als eine Art Belehrung und Botschaft für den kleinen Kerl, obgleich er mit seinem Großvater ausmachte, auch im nächsten Jahr bei ihnen zu logieren. Ihm gefielen die Ruhe und Harmonie, in der die Alten lebten, und er meinte, ihr Enkel, dessen Eltern in Amerika arbeiteten, werde sich bis zum nächsten Jahr bessern.